Kritisch

Kritisch

Es war das vierte Krankenhaus dieses Jahr, in dem sie nun saß und auf Nachrichten wartete. Diesmal aber in einer für sie ungewöhnlichen Stadt, zu einer unfassbaren Zeit. Die Uhr zeigte kurz nach Mitternacht.
Sie waren zu zweit, ihr Vater und sie. Ihr Bruder hatte keinen Flug bekommen und würde erst morgen früh kommen. Zu zweit in einer großen Vorhalle, auf einer schmalen Holzbank, auf der es unmöglich war, auch nur einzunicken.  Sie saßen da, nebeneinander, und unterhielten sich. Über belangloses Zeug, ihre Fahrt, seinen Flug. Nachdem der Anruf kam.
„Mamas Zustand ist sehr kritisch, komm, wenn du es einrichten kannst. Es ist eine Blutvergiftung.“ Sie zitterte am ganzen Körper als sie ihren Bruder anrief, nahm sich vor, nicht zu weinen und schluchzte los als er dranging.
„Mist. Blutvergiftung ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Ich fahre sofort zum Flughafen. Kuss.“

Sie packte etwas ein, quasi blind, irgendwelche Teile aus dem Schrank ziehend, Augen voller Tränen. Kopf voll von wirren Gedanken. Sie verstand es nicht. Ihre Mutter war sportlich, gesund, sechzig Jahre jung. Kein Alter für eine Intensivsstation mit einem ungewissen Ausgang. Ihre Mutter die noch letztes Wochenende mit Mini tobte, als wäre sie seine Freundin und nicht die Oma.
Sie umarmte Mini, krallte sich kurz an Ihm fest und genoss die zwei Sekunden in seinen Armen, und lief los. Der Zug fuhr ein, sie stieg um, versuchte eine banale Zeitschrift zu lesen, konnte jedoch kein einziges Wort behalten. Hoffte, es wäre alles ein schlechter Traum, ein böses Märchen, aber auf keinen Fall ihr Leben. Und doch war es das. Sie starrte aus dem Fenster des Zuges und betete zu allen möglichen Göttern, sie würde es noch pünktlich schaffen, ihre Mutter wenigstens noch einmal sehen.

Sie dachte an ihre Ausschabungen, an die dritte Operation als die Verwachsungen entfernt wurden. An ihre Verzweiflung, eventuell kein zweites Kind zu bekommen. An die zahlreichen Tränen, an die Wut gegen sich selbst und das Leben, an die Streiteren, die heftigen Worte, die Er und sie einander zuwarfen als sie sich wegen des Kinderwunschs stritten. Und kam sich dermaßen lächerlich vor, dass sie sich schämte. Sie hatte Ihn, Mini, sie waren alle gesund. Und ihre Mutter lag da und kämpfte mit ihrer ganzen Kraft um ihr Leben.

Sie stiegen aus dem Taxi und rannten in das Krankenhaus, Richtung Intensivstation. Sie blickten kurz in die schmerzerfüllten Augen ihrer Mutter und mussten sofort die Station verlassen. „Kommen Sie in einer Stunde wieder. Jetzt können Sie nicht bei ihr sein.“
Die Pfleger zogen den Vorhang zu und als sie den nächsten Satz irgendwo weit weg hörte, musste sie nach Luft schnappen. „Atmen Sie! Sie müssen jetzt atmen, kommen Sie schon!“

Die Stunde schien nicht zu vergehen, ihre Lider wurden immer schwerer. Sie hatte schon lange nichts mehr gegessen, ihr wurde übel. Der Krankenhausgeruch schlug ihr auf den Magen. Sie wollte sich übergeben, sie wollte weg. Aber sie musste. Wach bleiben, stark sein – für Mama. Genau sechzig Minuten später klingelten sie an der blickdichten und schweren Tür zur Intensivstation. Es schien als würde eine weitere Stunde vergehen, bis sie Schritte hörten und ihnen ein müder Arzt aufmachte. Sie merkte es sofort an seinem Blick. Es schien ihm schwer, ihnen in die Augen zu gucken. Wie viel Professionalität konnten die Ärzte hier haben. Hier, wo das Leben schneller zu Ende sein konnte als man nur den Namen des Patienten erfahren hatte. Obwohl sie ihr Bestes taten, um weitere Atemzüge zu ermöglichen.

„Es ist schlechter geworden. Die Antibiotika schlagen nicht an, weil wir erst morgen erfahren, mit welchem Keim wir es zu tun haben und dann hoffentlich das passende Mittel finden.“ Sie schwieg, unfähig, auch nur ein Verzweiflungslaut von sich zu geben. Ihr Vater kämpfte mit den Tränen.
„Wir müssen operieren. Wir vermuten eine Ursache im Damm. Sie können im Wartebereich warten. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wie lange die Operation dauern wird. Vielleicht nur ein paar Minuten, vielleicht aber auch ein paar Stunden. Je nachdem, ob wir etwas finden.“

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Wundfläche

Wundfläche

„Die Zeit heilt nicht alle Wunden, man lernt mit der Zeit nur, besser zu verdrängen, was einem weh getan hat.“
Cosma Shiva Hagen

Ihre Kollegin verabschiedete sich in den Mutterschutz, mit dem zweiten Kind. Strahle alle Glückshormone aus, die nur eine Schwangere ausstrahlen konnte.

Und sie, sie verabschiedete sich zur OP und hoffte, dass es diesmal tatsächlich bei dem einen Tag Krankschreibung bleiben würde. Nicht so wie bei ihren beiden Ausschabungen, als sie erst nach fünf Wochen wieder in die Schule kam, sich wieder arbeitsfähig fühlte.
Sie hatte Hunger, sie konnte am Abend vorher nichts essen – blöde Laune, blödes Wetter, blöde OP. Irgendwann durfte sie nichts mehr essen, da sie nüchtern bleiben musste. Ihr Magen knurrte, ihr Kopf tat weh, alles vor ihren Augen drehte sich.

„Kommen Sie, ich begleite Sie in den 2. Stock, dort werden Sie für die OP fertiggemacht.“ Sie fühlte sich fast heimisch, diese kleine Klinik, freundliche Schwestern. Derselbe Arzt, der ihre Verwachsungen entfernen, ihre Eizellen punktieren und sie wieder einsetzen würde. Alles winzig im Vergleich zu den anderen beiden Krankenhäusern, fast gemütlich.
Sie sah ihr Bett, das OP-Hemdchen und die Netzunterhose, zum dritten Mal in diesem Jahr, in diesem halben Jahr. Andere fuhren dreimal im Jahr zu einer Geschäftsreise, sie zu einem chirurgischen Eingriff. Es war wie ein nicht endendes Déjà-vu, wie ein Alptraum aus dem sie nicht aufwachen konnte, immer noch nicht. Sie dachte an Mini, wie er sie mit seinen großen Augen heute früh anlächelte und seine Armchen nach ihr ausstreckte. Sie wusste, wofür sie das alles erduldete. Die ganzen OP’s, sie waren es wert, irgendwann wieder ein eigenes Baby in ihren Armen halten zu können. Damit Mini nicht alleine aufwachsen musste, jemanden zum Freuen, Weinen, Spielen und Streiten hatte.

Das Bett war genauso hart wie in anderen Krankenhäusern, das OP-Steif gebügelt.
Die Narkoseärztin kam vorbei, stellte die üblichen Fragen und sprach ihr Mut zu. Der operierende Arzt scherzte und versprach einen kurzen Eingriff. Der verdammte Zugang schmerzte genauso wie er auch die Male davor schmerzte. Ihr gesamter Handrücken füllte sich so schwer wie ein Felsen an. Sie drehte sich um, damit die Ärzte ihre Tränen nicht sahen.
„Sie müssen zu mir gucken und in die Maske atmen. Tief ein- und ausatmen!“ Die Maske drückte unfassbar auf ihren Mund und stank. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, ob nach Plastik oder Desinfizierungsmittel. Sie wollte endlich einschlafen.

„Sind Sie da? Sind Sie in Ordnung?“ Es dauerte eine Weile, bis sie verstand, dass jemand vor ihrem Bett stand und heftig mit den Armen gestikulierte. Sie wollte ihre Augen aufmachen, aber sie konnte nicht. Irgendjemand ging aus dem Zimmer, die Tür ging zu. Sie weiß nicht, wie viel Zeit vergangen war. Sie fühlte sich müde und ausgelaugt, ihre sämtlichen Körperteile waren kraftlos. Eine Schwester stand vor ihr.
„Sie machen ja Sachen! Sie haben sich unter der Narkose heftigst hin und her bewegt, wir dachten, Sie würden vom Bett fallen! Das haben wir ja schon lange nicht mehr erlebt.“
Sie hatte bereits zahlreiche Vollnarkosen hinter sich, aber noch nie diese Rückmeldung bekommen, sie hätte dermaßen verrückt reagiert. Komisch. Vielleicht aber auch nicht außergewöhnlich. Vielleicht wehrte sich ihr Körper gegen die Belastungen, die schon so viele Monate, nein Jahre, andauerte. Vielleicht verlor sie langsam die Nerven. Vielleicht wollte ihr Körper ihr sagen, sie sollte das Schicksal nicht unnötig strapazieren. Sie hatten ein gesundes Kind, vielleicht war dieses Wunder ausreichend.

Der Arzt stand vor ihr und sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht sofort deuten. Das verunsicherte sie zunehmend. „Ich konnte alles, was eine erneute Schwangerschaft stören würde, entfernen. Allerdings hatte ich nicht mir so einer großen Wundfläche gerechnet. Gut, dass wir uns doch für eine Narkose entschieden haben. Es gibt deswegen ein Problem.“
Noch ein Problem? Hatte es einen Grund, dass bei ihr nichts einfach funktionierte und irgendein Quatsch immer wieder dazukam? Zwei Ausschabungen statt einer, und jetzt noch ein weiteres Problem.
„Kennen Sie Vomex? Das ist so ein Kleber. Wenn man zwei Teile zusammenklebt und sie aneinaderreibt, dann lassen sie sich noch einmal für einen kurzen Moment entfernen und es entstehen Fäden, die sich von einer Fläche zu anderen ziehen. So verhält es sich momentan mit Ihrer Gebärmutter. Die Wundfläche war zu groß, wenn die Flächen aneinanderreiben, können wieder Fäden, also kleinere Verwachsungen entstehen.“
Sie wurde mit einem Mal komplett wach. Was hörte sie da? Diese OP war eventuell nicht ihre letzte gewesen? Noch mehr Verwachsungen? Aber genau deswegen ließ sie sich doch vor ein paar Stunden operieren, damit die Verwachsungen verschwinden, nie wieder kommen, ihr keine Sorgen mehr bereiteten. Und nun würden Sie eventuell wiederkommen.
„Melden Sie sich wieder Anfang des nächsten Zyklus, wir machen wieder eine Gebärmutterspiegelung. Sollte ich weitere Verwachsungen sehen, schneide ich sie durch. Das ist nicht weiter kompliziert und geht ohne Narkose.“ Durchschneiden … ohne Narkose … Sie zuckte zusammen. Und war sich sicher, dass die Verwachsungen wiederkommen würden. Sie schloss die Augen und wünschte, sie könnte wieder einschlafen.

Abgestumpft

Abgestumpft

und „Er schliff immer an sich und wurde am Ende stumof, eher er scharf war.“

Georg Christoph Lichtenberg

Die Schwester quatschte vergnügt vor sich hin, erzählte von ihrer Heimatstadt, ihrer Leidenschaft für Fußball und von dem blöden Regen, der in den letzten Tagen nicht weniger wurde. Während sie mit gespreizten Beinen auf dem Stuhl, wieder einmal auf dem Stuhl, saß und sie zusammen auf den Arzt warteten.
Sie musste noch nie eine Gebärmutterspiegelung über sich ergehen lassen, lediglich ihre Blase wurde schon mehrfach untersucht, wegen der chronischen Blasenentzündungen- ohne einer erkennbaren Ursache. Die Blasenspiegelungen waren unangenehm, aber aushaltbar. Oder aber sie war verstumpft, wenn es um Schmerzen ging. Biss die Zähne zusammen und ertrug es, stand auf, richtete ihr Krönchen und ging weiter.
„Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass es nicht wehtut. Manche Frauen spüren nichts dabei, andere haben einen leichten Menstruationsschmerz. Aber selbst wenn, das Ganze dauert höchstens fünf Minuten. Das schaffen Sie! Der Arzt macht es ganz behutsam.“

Sie hatte das Gefühl, dass der Arzt länger reingeschaut hatte als die versprochenen fünf Minuten, sehr konzentriert, die Stirn runzelnd. Sie hatte mit auf den Monitor geschaut, sich die Gewebestrukturen erklären lassen, aber nicht viel verstanden. Zumindest hatte sie keinerlei Schmerzen verspührt, von dem Gerät, das jetzt ihr Inneres filmte. Sie, die Stumpfe.
„Ich würde es noch einmal operieren. Sehen Sie, hier. Das sind Verwachsungen, sie können später die Einnistung verhindern.“ … Operieren … Sie nahm es zur Kenntnis, ohne jeglicher Emotionen.
„Wenn es sein muss, dann muss es sein.“ Der Arzt schaute etwas verwirrt.
„Es ist keine große Sache, solche kleinen Verwachsungen könnte man theoretisch sogar ohne Narkose operieren. Wenn Sie allerdings keine Probleme mit Anästhesie haben, dann machen wir es lieber mit. Wirklich keine große Sache.“

Es würde ihre dritte OP in diesem Jahr werden und dieses Jahr war erst sechs Monate alt. Aber waren nicht alle guten Dinge drei? Vielleicht war dieser eine, dritte Eingriff notwendig, um sie zu ihrem Ziel zu bringen. Vielleicht musste sie das alles durchstehen, diesen Weg gegangen sein, um sich für das zweite Kind zu bewähren. Sie wusste, wofür sie das machte, sie dachte an Mini. Kinder, sie waren das alles wert. Sie würden ein zweites Kind haben müssen, damit die Operationen nicht umsonst gewesen waren, sondern für etwas gut.

„Haben Sie keine Angst. Weder vor der Operation, noch vor der Narkose.“ Angst … Sie hatte keine Agnst davor, dafür hatte sie schon zu viele Eingriffe hinter sich, alle überstanden. Sie hatte eine einzige Angst, die sie fast lähmte, nämlich die, dass sie ohne ein zweites Kind bleiben würde. Was waren schon ein paar Schnitte in ihrer Gebärmutter dagegen? Nichts, nur Narben, die wieder verheilen würden. Mittlerweile war sie gewohnt. Alles, was an Nebenwirkungen auftreten konnte, trat bei ihr auch auf. Zwei Ausschabungen, und danach immernoch Verwachsungen, noch einmal schneiden, auskratzen. Sie ging da also durch, ohne sich umzudrehen oder viele Fragen zu stellen. Es war eben so.

„Holen Sie sich bitte bei der Anmeldung ein Anästhesiebogen und bringen es ausgefüllt zum OP-Termin mit. Die Narkoseärztin wird sich dann noch ausführlich mit Ihnen vor dem Eingriff unterhalten.“ Sie hatte ein Dejávù, oder auch mehrere. Anästhesiebogen … nüchtern … nicht alleine nach Hause … kein Straßenverkehr, keine wichtigen Entscheidungen. Sie funktionierte nur noch, schaute nicht nach rechts, nicht nach links. Wie in einem Tunnel. Machte alles, was die Ärzte ihr sagten. Sie vertraute ihnen und ihrer Erfahrungen und hoffte, dass sie alle dasselbe Ziel verfolgten – ein Geschwichterchen für Mini machen.

Nervenaufreibend

Nervenaufreibend

„Mit wem das Pferd nie durchgeht, der reitet einen hölzernen Gaul.“

Friedrich Hebbel

Sie war aufgedreht und wachte jede Stunde auf, aus Angst zu verschlafen und den Termin in der Klinik zu verpassen. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal verschlafen hatte. Wahrscheinlich nie, aber die Aufregung stieg, ihre Angst auch. Die Nacht schien nicht zu vergehen.
Sie war endlich bereit, loszulassen, die Fehlgeburt loszulassen, und so voller Hoffnung. Ihr Wecker zeigt fünf Uhr morgens als sie hellwach auf ihn gucke und sich fragte, wie sie die zwei Stunden bis Minis Aufwachen überstehen sollte, um ihn dann in die KiTa zu bringen und sich in die Klinik aufzumachen. Sie freute sich auf den neuen Versuch. Vielleicht lag es am Sommer, an der Helligkeit und der Sonne, woran es auch immer lag- es ging ihr gut. Die Zuversicht und die Kraft kamen langsam zurück und verliehen ihr etwas Optimismus.

Mini drehte sich hin und her, wurde langsam wach. Draußen war es schon längst hell, sie hatte schon lange gefrühstückt und sich angezogen. Sogar etwas geschminkt. Mini machte seine Augen auf und dann sah sie es: Eiter in seinen Augen. Ausgerechnet heute, als hätte Mini es gespürt, dass sie einen wichtigen Termin hatte.  Sie überlegt hin und her. Sie konnte unmöglich mit ihm in die Klinik, ihn daneben sitzen lassen, während der Arzt bei ihr die Spiegelung durchführte. Außerdem musste sie mit Mini zum Kinderarzt, sie brauchten Augentropfen. Mini hatte eindeutig eine Bindehautentzündung, er konnte nicht in die KiTa. Sie sah Ihn flehend an. „Nur zwei Stunden. Du kannst doch bestimmt zwei Stunden später zur Arbeit kommen.“ Wann, wenn nicht heute, in dieser Notsituation? Sie wollte nicht noch einen Monat warten, bis die Spiegelung durchgeführt werden konnte. Das würde alles unnötig nach hinten verschieben. Und wer weiß, vielleicht war mit ihrer Gebärmutter tatsächlich etwas nicht in Ordnung, schließlich hatte sie in den letzten Monaten genug durchgemacht. Vielleicht musste sie noch einmal operiert werden, irgendwelche Therapien durchmachen, bevor es losgehen konnte. Das hieße dann, noch mehr Zeit verlieren. Und wer weiß, wie viele Versuche sie noch brauchen würden. Alles Zeit, Zeit, die sie nicht hatte.

„Guck mich nicht so an, ich habe gleich einen wichtigen Termin, das weißt du doch! Heute kann ich wirklich nicht, unmöglich!“
Sie wurde wütend, natürlich, sein Job war ja soo wichtig, der wichtigste Job überhaupt. Nur sie konnte die Schule mehrmals im Monat verpassen, weil sie wieder einmal einen Termin in der Kinderwunschklinik wahrnehmen musste. Es war ja nur Schule, nur Schüler, nur Arbeiten, die sie schreiben mussten. Auch sie hatte Termindruck, aber sie hatte auch biologischen Zeitdruck. Er anscheinend nicht. Es nervte sie. Sie wollten beide ein zweites Kind haben, aber er war nicht mal bereit, zwei mickrige Stunden mit Mini zu bleiben.
„Vielleicht bekommst du morgen noch einen Termin? Morgen könnte ich länger Zuhause mit Mini bleiben und dann wechseln wir uns ab, nach deiner Untersuchung.“ Nach ‚deiner Untersuchung‘ … es war ihre beider Untersuchung. Sie rollte innerlich mit den Augen, Er eilte zur Arbeit.
Die Kinderarztpraxis hatte Urlaub. Mist. Sie fand endlich einen Augenarzt, der sich bereit erklärte, Mini noch heute aufzunehmen. Sie versuchte, die Klinik zu erreichen, bestimmt zehnmal. Erfolglos. Sie schrieb eine Mail. Kind krank … neuer Termin … vielen Dank für Ihre Mühe. Während sie mit Mini zurücklief, und versuchte, ihn von den Autos fernzuhalten, rief sie noch einmal an.

„Drangehen, bitte. Nur noch zwanzig Minuten Telefonsprechstunde.“

Sie musste heute jemanden erreichen. Sie brauchte einen Termin für Morgen.
„Kinderwunschklinik, guten Tag?“
Es gab morgen keinen Termin, alles voll. Die Klinik konnte nur drei Gebärmutterspiegelungen am Tag machen, morgen würden schon drei stattfinden. Für sie gab es keine Kapazität mehr, leider.
„Tut mir sehr leid, melden Sie sich bitte in einem Monat wieder, sobald Ihre Regel kommte.“

Sie hätte weinen können, zusammen mit Mini. Allerdings aus verschiedenen Gründen. Was für ein Scheiß! Murphy’s Law von seiner feinsten Seite.
Zwei Stunden später kam eine Mail. „Kommen Sie morgen früh um 8:45 Uhr zur Gebärmutterspiegelung.“ Sie atmete auf und schloss die Augen. Sie musste dringend etwas für ihr Nervensystem tun, beziehungsweise für das, was davon übrig geblieben war.

Klinik Nr. 3

Klinik Nr. 3

„Wenn der Mann für dich kocht und der Salat enthält mehr als drei Zutaten, dann meint er es ernst.“
Penelope Cruz

Sie standen zu dritt vor der alten Villa, die ihr Angst einjagte. Sie wirkte würdevoll, herrschaftlich und ja, auch wunderschön. Dieses Gebäude spiegelte ihre gesamte Kinderwunschgeschichte wieder. Sie fürchteten sich vor dem, was kommen würde  und waren dennoch gezwungen, ihr Leben in die Hände der Herrscher dieses Hauses zu geben, um am Ende ihres Weges eine wunderschöne Ergänzung ihrer Familie mitzunehmen.

Es war mittlerweile die dritte Klinik, in die sie all ihre Hoffnung setzten. Diese war so anders als die beiden bisher. Wahrscheinlich waren sie alle anders, jede mit ihrer Art, den Patienten und Patientinnen Mut zuzusprechen. Jede mit ihren eigenen Methoden. Oder auch nicht. All diese Kliniken müssten auf demselben Stand der Wissenschaft sein, mit den neuesten Erkenntnissen arbeiten. Wie sollte man die richtige Klinik aussuchen, die wichtige Entscheidung treffen? Eine Garantie, man würde mit Sicherheit schwanger werden, gab es nirgendwo. Nur das Versprechen, das Beste, das Möglichste zu tun. Und trotzdem: Ihre Erfahrung mahnte – aufzupassen, mitzudenken, den Ärzten hinterher sein. Weder ihr Körper, noch ihr Portemonnaie konnten sich zu viele Experimente leisten. Ihr Nervenkostüm schon gar nicht. Sie verspürte ein Glücksgefühl. Sie mussten diesemal keine Entscheidung treffen, keine aufwendigen Recherchen betreiben und Bewertungen lesen. In ihrer neuen Stadt gab es nur die eine Klinik. Und die zahlreichen Dankeskarten mit süßen Babygesichtern im Anmeldebereich sprachen eine Erfolgssprache. Sie atmete geräuschlos aus. Sie fühlte sich angekommen. Es fühlte sich warm und willkommen an.

Mini rannte aufgeregt durch die Empfangshalle, öffnete die Tür und machte sie wieder zu. Kletterte auf den Stuhl und stieg wieder ab. Die Empfangsdamen waren herzlich, hießen sie willkommen, lächelten ermunternd. „Sie können die Unterlagen auch gerne oben ausfüllen. Im Wartezimmer haben wir Spielzeug.“ Spielzeug … Spielzeug bedeutete, hierher kamen auch andere Paare, die bereits ein Kind hatten und sich ein zweites wünschten. Es beruhigte sie immer, nicht alleine zu sein. Der rosa Einhorn unter schwarz-weißen Zebras.
Der Anamnesebogen war umfangreich. Einer für sie, einer für Ihn. Größe, Gewicht, Vorerkrankungen, Operationen, Kinderwunsch, Sex. Der übliche Seelenstriptease.

Mini schaffte es noch nicht einmal die Hälfte der Spielzeuge zu erforschen als sie schon reingerufen wurden. Der Arzt fragte nach ihrer Geschichte, las ihren Entalssungsbrief aus dem Krankenhaus nach der Ausschabung und schaute mehrmals auf den Kalender. „Was sagten Sie, welchen Zyklustag haben Sie heute?“ Noch vor wenigen Jahren wäre sie über diesen Begriff gestolpert. Heute war das Wort fest in ihrem Vokabular verankert. Sie zählte jeden Monat ihre Zyklustage, angefangen mit dem ersten Tag der Regel. Die Zykluslänge war für Kinderwunsch enorm wichtig. Und sie notierte alles, was für den Kinderwunsch wichtig war.
„Sehr gut! Dann sind Sie ja noch am Anfang. Wir müssen auf jeden Fall eine Gebärmutterspiegelung machen, um zu schauen, ob nach den zwei Ausschabungen alles heil geblieben ist.“ Sie unterdrückte eine Träne als der Ärzt erläuterte, der Eingriff würde ohne Narkose stattfinden.. Es schüttelte sie innerlich, als sie daran dachte, wie vor ein paar Monaten die Ärztin im Krankenhaus versuchte, ihre Gebärmutter durchzuspülen, um die Blutung zu stoppen- erfolglos. Der Arzt bemerkte ihre Zweifel.
„Die ganze Prozedur dauert nur wenige Minuten, ich denke nicht, dass Sie Schmerzen haben werden.“ Sie schaute zu Mini, um sich daran zu erinnern, warum sie das hier machte, machen musste, warum sie das alles auf sich nahm. „Dann nehmen wir Ihnen Blut ab, in einer Woche noch einmal und machen zwei Ultraschalle. Ich muss ihren Zyklus kontrollieren, bevor ich einen Plan entwickele. Und wenn wir alle Ergebnisse haben, dann kann ich Ihnen sagen, was ich für Sie tun kann. Und Sie sagen mir, wann es Ihnen passt.“

Da war sie, wieder mitten in der Kinderwunsch-Behandlung. „Können wir den zweiten Ultraschall- Termin nachmittags machen? Ich kann meiner Schulleitung sonst nicht erklären, warum ich an zwei unabhängig von einander liegenden Tagen mit einem so kurzen Abstand fehlen muss.“ Es nervte sie, dass sie in dieser Situation an ihre Arbeit dachte. Der Kinderwunsch und die Schule, so sehr sie sie auch liebte, standen in keinem Verhältnis zueinander. Der Lehrermangel könnte sich gleich morgen vervielfachen, sie würde trotzdem die Termine in der Klinik wahrnehmen und nicht zum Unterricht erscheinen. Und dennoch: Sie hatte ein schlechtes Gewissen, sie wollte sich nicht erklären müssen.
„Das kriegen wir schon hin! Kommen Sie gleich morgen, dann mache ich die Spiegelung und wir sind schon mal schlauer. Wissen Sie noch, mit welchen Medikamenten Sie beim Mini stimuliert wurden? Außerdem brauche ich ein aktuelles Spermiogramm. Ich nehme an, an dem Ergebnis hat sich nichts geändert?“
Er schaute sie an und schüttelte mit dem Kopf.

Sie versprach dem Arzt, morgen alle notwendigen Unterlagen zu bringen. Gemeinsam verließen sie die Klinik als ihnen entgegen eine junge Frau kam, mit derselben Mappe, wie sie sie gerade bekommen hatten, den Blick nach unten gerichtet, bloß niemanden anschauen. Sie erinnerte sich an ihren ersten Kinderwunsch-Informationsabend, als voller Neugier die Menschen anschaute, die neben ihr saßen und gebannt dem Vortrag lauschten. Vor fast vier Jahren begann ihr Kinderwunschweg und sie wünschte sich so sehr, dass sie das Geburtswunder noch einmal erlebten dürften.