Es war das vierte Krankenhaus dieses Jahr, in dem sie nun saß und auf Nachrichten wartete. Diesmal aber in einer für sie ungewöhnlichen Stadt, zu einer unfassbaren Zeit. Die Uhr zeigte kurz nach Mitternacht.
Sie waren zu zweit, ihr Vater und sie. Ihr Bruder hatte keinen Flug bekommen und würde erst morgen früh kommen. Zu zweit in einer großen Vorhalle, auf einer schmalen Holzbank, auf der es unmöglich war, auch nur einzunicken. Sie saßen da, nebeneinander, und unterhielten sich. Über belangloses Zeug, ihre Fahrt, seinen Flug. Nachdem der Anruf kam.
„Mamas Zustand ist sehr kritisch, komm, wenn du es einrichten kannst. Es ist eine Blutvergiftung.“ Sie zitterte am ganzen Körper als sie ihren Bruder anrief, nahm sich vor, nicht zu weinen und schluchzte los als er dranging.
„Mist. Blutvergiftung ist die dritthäufigste Todesursache in Deutschland. Ich fahre sofort zum Flughafen. Kuss.“
Sie packte etwas ein, quasi blind, irgendwelche Teile aus dem Schrank ziehend, Augen voller Tränen. Kopf voll von wirren Gedanken. Sie verstand es nicht. Ihre Mutter war sportlich, gesund, sechzig Jahre jung. Kein Alter für eine Intensivsstation mit einem ungewissen Ausgang. Ihre Mutter die noch letztes Wochenende mit Mini tobte, als wäre sie seine Freundin und nicht die Oma.
Sie umarmte Mini, krallte sich kurz an Ihm fest und genoss die zwei Sekunden in seinen Armen, und lief los. Der Zug fuhr ein, sie stieg um, versuchte eine banale Zeitschrift zu lesen, konnte jedoch kein einziges Wort behalten. Hoffte, es wäre alles ein schlechter Traum, ein böses Märchen, aber auf keinen Fall ihr Leben. Und doch war es das. Sie starrte aus dem Fenster des Zuges und betete zu allen möglichen Göttern, sie würde es noch pünktlich schaffen, ihre Mutter wenigstens noch einmal sehen.
Sie dachte an ihre Ausschabungen, an die dritte Operation als die Verwachsungen entfernt wurden. An ihre Verzweiflung, eventuell kein zweites Kind zu bekommen. An die zahlreichen Tränen, an die Wut gegen sich selbst und das Leben, an die Streiteren, die heftigen Worte, die Er und sie einander zuwarfen als sie sich wegen des Kinderwunschs stritten. Und kam sich dermaßen lächerlich vor, dass sie sich schämte. Sie hatte Ihn, Mini, sie waren alle gesund. Und ihre Mutter lag da und kämpfte mit ihrer ganzen Kraft um ihr Leben.
Sie stiegen aus dem Taxi und rannten in das Krankenhaus, Richtung Intensivstation. Sie blickten kurz in die schmerzerfüllten Augen ihrer Mutter und mussten sofort die Station verlassen. „Kommen Sie in einer Stunde wieder. Jetzt können Sie nicht bei ihr sein.“
Die Pfleger zogen den Vorhang zu und als sie den nächsten Satz irgendwo weit weg hörte, musste sie nach Luft schnappen. „Atmen Sie! Sie müssen jetzt atmen, kommen Sie schon!“
Die Stunde schien nicht zu vergehen, ihre Lider wurden immer schwerer. Sie hatte schon lange nichts mehr gegessen, ihr wurde übel. Der Krankenhausgeruch schlug ihr auf den Magen. Sie wollte sich übergeben, sie wollte weg. Aber sie musste. Wach bleiben, stark sein – für Mama. Genau sechzig Minuten später klingelten sie an der blickdichten und schweren Tür zur Intensivstation. Es schien als würde eine weitere Stunde vergehen, bis sie Schritte hörten und ihnen ein müder Arzt aufmachte. Sie merkte es sofort an seinem Blick. Es schien ihm schwer, ihnen in die Augen zu gucken. Wie viel Professionalität konnten die Ärzte hier haben. Hier, wo das Leben schneller zu Ende sein konnte als man nur den Namen des Patienten erfahren hatte. Obwohl sie ihr Bestes taten, um weitere Atemzüge zu ermöglichen.
„Es ist schlechter geworden. Die Antibiotika schlagen nicht an, weil wir erst morgen erfahren, mit welchem Keim wir es zu tun haben und dann hoffentlich das passende Mittel finden.“ Sie schwieg, unfähig, auch nur ein Verzweiflungslaut von sich zu geben. Ihr Vater kämpfte mit den Tränen.
„Wir müssen operieren. Wir vermuten eine Ursache im Damm. Sie können im Wartebereich warten. Ich kann Ihnen aber nicht sagen, wie lange die Operation dauern wird. Vielleicht nur ein paar Minuten, vielleicht aber auch ein paar Stunden. Je nachdem, ob wir etwas finden.“